HomeWissenNewsletterdetailNichts Neues bei Überstundenprozessen
2022

Nichts Neues bei Überstundenprozessen

Im Mai 2019 sorgte der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einer Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung für Wirbel. Die europäischen Richter hatten entschieden, dass die Zeiterfassung in EU-Mitgliedstaaten durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System erfolgen müsse. Bislang sieht das deutsche Arbeitszeitgesetz – abgesehen von einigen Ausnahmen beispielsweise im Mindestlohngesetz – in § 16 Abs. 2 lediglich die Erfassung von Überstunden vor, nicht jedoch die Erfassung sämtlicher geleisteter Arbeitszeiten. In der Folge bestand Uneinigkeit darüber, ob Arbeitgeber verpflichtet sind, nun entsprechende Zeiterfassungssysteme einzurichten oder ob es allein Sache des deutschen Gesetzgebers sei, die Grundsätze aus dem Urteil in nationales Recht umzusetzen.

In einem so genannten "Überstundenprozess" – der Kläger verlangte Vergütung für behauptete Überstunden – hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) nunmehr Gelegenheit, sich zu dieser viel diskutierten Frage zumindest vage zu äußern. Mit Urteil vom 04.05.2022 blieben die Richter aus Erfurt bei ihrer bisherigen Rechtsprechung: Es obliegt (weiterhin) den Arbeitnehmern im Rahmen eines Überstundenprozesses, die Überstunden auch zu beweisen. Das EuGH-Urteil zu Zeiterfassungssystemen ändere daran nichts. Verlangt ein Arbeitnehmer Vergütung für etwaig geleistete Überstunden muss er zwei Dinge nachweisen: Zunächst, dass und wann konkret überhaupt über die regelmäßig geschuldete Arbeitszeit hinausgearbeitet wurde. Gelingt dies, muss in einem zweiten Schritt dargelegt und bewiesen werden, dass die geleisteten Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt wurden. Regelmäßig sind diese Nachweise für Arbeitnehmer nur schwer zu führen.

Im vom BAG entschiedenen Fall hatte das Arbeitsgericht Emden in erster Instanz vor dem Hintergrund des europäischen "Zeiterfassungs-Urteils" entschieden, dass Arbeitgeber eine Verpflichtung treffe – hergeleitet aus einer europarechtskonformen Auslegung der Fürsorge- und Schutzpflicht des Arbeitgebers gemäß § 618 BGB –, Arbeitszeiten zu messen, aufzuzeichnen und zu kontrollieren. Geschehe dies nicht, sei dies als Beweisvereitelung zu werten, was faktisch zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers führe.

Bereits in der Berufungsinstanz hatte sich das Landesarbeitsgericht Niedersachsen dieser Argumentation entgegengestellt und betont, dass das EuGH-Urteil ausschließlich die Mitgliedstaaten binde und keine unmittelbare Wirkung für Arbeitgeber begründe. Darüber hinaus müsse auch zwischen Fragen des Arbeitnehmerschutzrechts (Höchstarbeitszeiten, zwingende Pausen- und Ruhezeiten) und Fragen der Vergütung für etwaig geleistete Arbeit unterschieden werden. Nur im ersten Fall habe der EuGH durch europäische Richtlinien eine Entscheidungskompetenz. Auf die Beweislast in einem klassischen Überstundenprozess – der auf Vergütung abzielt - könne das EuGH-Urteil auch aus diesem Grund keine Auswirkung haben.

Dies bestätigte das BAG mit dem Urteil vom 04.05.2022: Die Beweislast bleibt also weiterhin bei den Arbeitnehmern. Der EuGH befasse sich allein mit Fragen des Arbeitsschutzes und dessen effektiver Gewährleistung. Die europäische Arbeitszeitrichtlinie und das darauf beruhende Urteil aus Mai 2019 haben daher keine Auswirkungen auf das deutsche Prozessrecht oder Vergütungsfragen.

Die unveränderte und bestätigte Rechtsprechung des BAG ist für Arbeitgeber erfreulich und führt zunächst zu einem Aufatmen. Andernfalls wäre wohl in zahlreichen Prozessen ein pauschales Behaupten von Überstunden ausreichend gewesen, um Vergütungsansprüche durchzusetzen (sofern noch kein "objektives, verlässliches und zugängliches Zeiterfassungssystem" vorliegt). Allerdings wird die Frage nach der Pflicht zur Zeiterfassung früher oder später durch den Gesetzgeber geregelt werden – spätestens dann ergeben sich neue Spielregeln wohl auch im Rahmen von Überstundenprozessen.

Rechtsgebiete

NEWSLETTER

linkedin facebook pinterest youtube rss twitter instagram facebook-blank rss-blank linkedin-blank pinterest youtube twitter instagram