Die EU-Kommission hat am 8.7.2021 Geldbußen in Höhe von über EUR 875 Mio. gegen die VW-Gruppe und BMW verhängt. Daimler ist die Geldbuße als Kronzeuge erlassen worden. Erstmalig hat die EU-Kommission in diesem Verfahren Unternehmen wegen Kartellrechtsverstößen bebußt, bei denen sich Wettbewerber ausschließlich zu technischen Entwicklungen abgestimmt bzw. ausgetauscht haben.
Welches Verhalten wurde den Automobilherstellern vorgeworfen?
Die EU-Kommission hat festgestellt, dass sich Fachleute der Automobilhersteller regelmäßig in einem der sogenannten "5er Kreise" trafen und dabei über die Entwicklung der SCR-Technologie sprachen, mit der schädliche Stickoxidemissionen („NOx-Emissionen“) von Diesel-Pkw durch die Einspritzung von Harnstoff („AdBlue“) in den Abgasstrom beseitigt werden können. Dabei vereinbarten die Unternehmen nach den Feststellungen der EU-Kommission die Größen ihrer AdBlue-Tanks, legten die AdBlue-Nachfüll-Reichweiten fest und erreichten ein gemeinsames Verständnis zum zu erwartenden durchschnittlichen AdBlue-Verbrauch. Außerdem tauschten sie sensible Informationen zu diesen Aspekten aus.
Warum ist das kartellrechtlich verboten?
Nach Ansicht der EU-Kommission beschränkten die Vereinbarungen und der Informationsaustausch der Automobilhersteller den Wettbewerb um bestimmte Produktmerkmale, die für die Kaufentscheidung des Kunden von Relevanz sein können. Derartige Wettbewerbsparameter müssen nicht zwingend kommerziell sein, sie können auch technischer Natur sein. Die EU-Kommission nannte diesbezüglich zwei Wettbewerbsparameter, die beschränkt worden seien: eine über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehende Reinigung der NOx-Emissionen (sogenannte „Übererfüllung“) sowie den AdBlue-Nachfüllkomfort.
Dieses Verhalten stellt für die EU-Kommission einen Verstoß gegen das Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 1 lit. b AEUV dar.
Was ist das Besondere an diesem Fall?
Die EU-Kommission hat in ihrer Pressemitteilung eingeräumt, dass sie in diesem Verfahren erstmalig Geldbußen für Kartellrechtverstöße verhängt hat, die sich ausschließlich auf Absprachen bzw. Informationsaustausch zu technischen Entwicklungen beziehen und nicht auf Preise, Kunden oder Marktaufteilungen. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Gespräche der Automobilhersteller dem Grunde nach (auch) einen legitimen Ansatz hatten. Die Automobilhersteller wollten gemeinsam den technischen Fortschritt bei der Abgasreinigung fördern. Die Grenzen einer noch zulässigen technischen Kooperation wurden dabei jedoch nach Ansicht der EU-Kommission überschritten. Diese konstatierte, das Verfahren sei "ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn eine eigentlich legitime technische Zusammenarbeit schiefgelaufen ist".
Die Kommission hat den beteiligten Unternehmen vor diesem Hintergrund auch Hinweise dazu gegeben, welche Aspekte ihrer Zusammenarbeit in Bezug auf SCR-Systeme kartellrechtlich zulässig sind, z.B. die Standardisierung des AdBlue-Einfüllstutzens, Gespräche über Qualitätsnormen für AdBlue oder die gemeinsame Entwicklung einer Software-Plattform für die AdBlue-Dosierung. Die Beispiele zeigen, wie schwierig es z.B. für einen Ingenieur in der Praxis sein kann, die kartellrechtlichen Grenzen in solchen Gesprächen zu erkennen (z.B.: Tankgröße soll nicht besprochen werden, Qualitätsnormen sind möglich).
Außerdem kündigte die EU-Kommission an, auch zukünftig entschieden gegen alle Formen von Kartellrechtsverstößen vorzugehen, die die ehrgeizigen Ziele des Grünen Deals der EU gefährden.
Was bedeutet das für Unternehmen?
Die EU-Kommission hat an den Automobilherstellern ein Exempel statuiert. Es muss damit gerechnet werden, dass sich die Verfolgungspraxis der Kartellbehörden künftig stärker auch auf Kooperationen und Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern zu technischen Themen fokussieren wird und diesbezüglich auch das Bußgeldrisiko steigt. Das Verfahren veranschaulicht, wie schmal der Grat zwischen kartellrechtlich legitimem Informationsaustausch über technische Themen und technologischen Fortschritt einerseits und wettbewerbsbeschränkenden Gesprächen über Wettbewerbsparameter andererseits sein kann – und wie teuer es werden kann, wenn den Mitarbeitern die Grenzen nicht bewusst sind.
Unternehmen sollten diesen Fall zum Anlass nehmen, ihre Kartellrechtscompliance zu überprüfen: Sind alle Mitarbeiter, die sich mit Wettbewerbern austauschen könnten, hinreichend für die Grenzen eines Informationsaustauschs (auch) zu technischen Themen instruiert? Sind technische Kooperationen und der Austausch mit Wettbewerbern zu technischen Themen in den bestehenden Leitfäden, Schulungsunterlagen und anderen Compliance-Maßnahmen abgedeckt? Ist dem Compliance-Verantwortlichen bekannt, zu welchen Anlässen Mitarbeiter sich mit Wettbewerbern zu technischen Themen austauschen und was genau dabei besprochen wird? Zu denken ist hier vor allem an Branchen- und Fachveranstaltungen (z.B. Verbandsveranstaltungen, Messen, Standardisierungsgremien), aber auch an sonstige bi- oder multilaterale Treffen von Wettbewerbern (Arbeitskreise, Benchmarking, private Kontakte, etc.). Gegebenenfalls sollte die Kartellrechtscompliance mit geeigneten Maßnahmen ergänzt werden, um die Risiken aus Gesprächen mit Wettbewerbern zu technischen Themen zu minimieren.