Vorgeschichte:
Seit 2006 sind die Mitgliedstaaten durch die EU-Dienstleistungsrichtlinie verpflichtet, Vorschriften auf den Prüfstand zu stellen, die die Beachtung von Mindest- oder Höchstpreisen durch einen Dienstleister regeln. Zulässig sind sie nur, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sind.
2015 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, da sie die Mindest- und Höchstsätze der HOAI als durch die mit ihr verfolgten Ziele nicht gerechtfertigt ansah.
2018 erhob die EU-Kommission Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EuGH.
Was hat der EuGH entschieden?
Der EuGH stellte fest, dass die Bundesrepublik gegen ihre Verpflichtungen aus der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen hat, indem sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehielt. Die Vorgabe von Höchstsätzen sei nicht verhältnismäßig, da weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht kämen, z. B. Richtpreise oder Empfehlungen.
Die Mindestsätze seien zwar grundsätzlich geeignet, die mit ihnen verfolgten und anerkannten Ziele – Qualität des Baues, Verbraucherschutz, Bausicherheit, Erhalt der Baukultur, ökologisches Bauen – zu erreichen. Diese Ziele würden aber nicht systematisch verfolgt, da in Deutschland Planungsleistungen auch von Dienstleistern erbracht werden, die ihre entsprechende fachliche Eignung nicht nachweisen müssen.
Die Entscheidung des EuGH betrifft also die Vorgabe von verbindlichen Höchstsätzen in der HOAI und die Vorgabe von verbindlichen Mindestsätzen in der HOAI. Sie ist nach der Entscheidung des EuGH europarechtswidrig.
Wie geht es jetzt weiter?
Kein Rechtsbehelf: Die Entscheidung des EuGH ist nicht angreifbar. Die Bundesrepublik ist verpflichtet, den festgestellten Verstoß „möglichst rasch“ zu beseitigen. Der Verordnungsgeber hat die Pflicht zur Beachtung verbindlicher Mindest- und Höchstsätze umgehend abzuschaffen. Etwaige Übergangsfristen sind nicht zu erwarten. Wann und wie das EuGH-Urteil umgesetzt wird, ist nicht absehbar. Die Bundesregierung hat sich mehrfach dazu bekannt, an der HOAI grundsätzlich festzuhalten. Für die Übergangszeit hat die Bundesregierung einen Erlass angekündigt, wie die Behörden mit dem Urteil umzugehen haben.
Ist damit die HOAI als Ganzes obsolet?
Nein. Es bleibt zulässig, Honorare auf Basis der von der HOAI vorgegebenen Parameter zu vereinbaren. Von der Entscheidung unberührt bleiben also insbesondere die HOAI-Leistungsbilder, die Regelungen zur Honorar- und Kostenermittlung, die Regelungen zur Vergütung von Nebenkosten, die Regelungen zur Fälligkeit der Honorare und die in der HOAI enthaltenen Formvorschriften (schriftlich, bei Auftragserteilung).
Sind wegen des EuGH-Urteils bestehende Verträge nicht mehr gültig?
Bestehende schriftliche Honorarvereinbarungen werden durch das EuGH-Urteil nicht unwirksam oder anfechtbar. Das bedeutet insbesondere: Leistungen sind unverändert entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen zu erbringen, auch soweit sie durch Bezugnahme auf die HOAI-Leistungsbilder definiert werden, und zu vergüten: Abschlags- und Schlussrechnungen können wie bislang gestellt werden.
Kann weiterhin die Einhaltung des HOAI-Honorarrahmens verlangt werden, insbesondere also die Anhebung des vereinbarten Honorars auf den richtig berechneten Mindestsatz?
Dies ist ab sofort ausgeschlossen: Eine Auffassung bejaht zwar die unveränderte Möglichkeit, die „Aufstockung“ des Honorars durchzusetzen, da die Entscheidung des EuGH allein den Staat binde und zudem die der Entscheidung zugrunde liegende EU-Dienstleistungsrichtlinie nicht zwischen Privaten gilt. Alle staatlichen Einrichtungen – darunter auch die Gerichte – haben aber höherrangiges EU-Recht zu beachten und nationales Recht eigenständig auf eine Europarechtswidrigkeit zu prüfen. Die Überschreitung der Höchst- und die Unterschreitung der Mindestsätze führen nicht mehr zur Unwirksamkeit einer bestehenden Honorarvereinbarung. Dies wurde bereits durch das OLG Celle mit Urteil vom 17.07.2019 (14 U 188/18) bestätigt.
Folge: Die einseitige Lösung von einer getroffenen Honorarvereinbarung wegen Verletzung bindenden Preisrechts ist nicht mehr möglich!
Kann bei bestehenden Verträgen eine Anpassung der Honorarzone verlangt werden, wenn sich die vereinbarte Honorarzone als unzutreffend erweist?
Nein. Eine einseitige Anpassung der Honorarzone war bislang immer nur dann möglich, wenn durch die Vereinbarung der unzutreffenden Honorarzone das objektiv ermittelte Mindesthonorar unterschritten bzw. das noch zulässige Höchsthonorar überschritten wurde. Das Verlassen des Honorarrahmens führte zu Unwirksamkeit der getroffenen Honorarvereinbarung, sodass kraft der Verordnung das geschuldete Honorar auf den Mindestsatz angehoben bzw. auf den Höchstsatz abgesenkt wurde. Mangels verbindlichen Preisrechts ist dieser Weg nun verschlossen.
Was gilt bei bestehenden Verträgen, wenn zwar eine Vergütung auf Basis der HOAI vereinbart ist, der Vertrag aber keine weiteren Festlegungen enthält?
Es gelten – kraft Vereinbarung – die von der HOAI für das jeweilige Objekt objektiv vorgegebenen Honorarparameter, d. h. der Mindestsatz, die insbesondere nach DIN 276 ermittelten anrechenbaren Kosten (§ 4 HOAI), die objektiv richtige Honorarzone (§ 5 HOAI), der Anspruch auf Berücksichtigung der mitzuverarbeitenden Bausubstanz in angemessenem Umfang (§ 4 Abs. 3 HOAI) und ein Umbauzuschlag von 20 % ab einem durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad. Sind einzelne dieser Parameter vereinbart, sind diese aber gültig.
Kann nachträglich ein höherer Umbauzuschlag oder eine stärkere Berücksichtigung der mitzuverarbei-tenden Bausubstanz verlangt werden, wenn im Vertrag Festlegungen getroffen wurden (z. B. 0 %) ?
Nein. Ist hierzu etwas vereinbart, sind die Parteien an diese Vereinbarung gebunden.
Was gilt, wenn für geschuldete bzw. erbrachte Leistungen keine (formwirksame) Honorarvereinbarung besteht?
Gemäß § 7 Abs. 5 HOAI gelten die Mindestsätze als vereinbart, sofern nicht bei Auftragserteilung etwas anderes schriftlich vereinbart worden ist. Der Mindestsatz lebt! Haben die Parteien keine schriftliche Honorarvereinbarung getroffen, für bestimmte Leistungen keine Einigung über das Honorar herbeigeführt oder die Honorarvereinbarung nicht bereits bei Auftragserteilung geschlossen, gilt bei Grundleistungen weiterhin der Mindestsatz als vereinbart.
Dem steht das EuGH-Urteil nach h. M. nicht entgegen: Der EuGH hat lediglich entschieden, dass es europa-rechtswidrig ist, den Parteien Honorarvereinbarungen unterhalb der Mindest- bzw. oberhalb der Höchstsätze zu verbieten. Zur Zulässigkeit der Fiktion eines bestimmten Honorars, wenn keine Honorarvereinbarung besteht, hat sich der EuGH (zu Recht) nicht geäußert. Eine Europarechtswidrigkeit der Vorgabe der Schriftform in § 7 Abs. 5 HOAI ist nicht ersichtlich.
Gibt es nun keine Möglichkeit mehr, sich von ungünstigen Honorarvereinbarungen zu lösen?
Es gibt weiterhin rechtliche Möglichkeiten, insbesondere aus dem BGB, z. B. bei gravierender Änderung der Planungsleistung, bei Erweiterung des Auftragsumfangs, bei Verlängerung der Leistungszeit, bei Beauftragung mit zusätzlichen oder Besonderen Leistungen oder bei Änderung der Planungsgrundlage.
Nicht mehr möglich ist allein, die getroffene Honorarvereinbarung unter Hinweis auf eine eingetretene Mindestunter- bzw. Höchstsatzüberschreitung zu Fall zu bringen.
Welche Auswirkungen hat das EuGH-Urteil auf die Honorierung von Änderungsleistungen?
Vorrang der Honorarvereinbarung: Das Honorar für Änderungsleistungen richtet sich zunächst nach den hierfür im Vertrag vorgesehenen Regelungen. Im Übrigen gilt bei Architekten- und Ingenieurleistungen §§ 650q, 650b, 650c BGB: Freie Vereinbarkeit des Honorars. Zudem dürfte spätestens jetzt die Möglichkeit zur Abrechnung auf Ist-Kostenbasis (§ 650c BGB) eröffnet sein.
Folgen im Vergabeverfahren
Architekten- und Ingenieurleistungen sind unverändert im Leistungswettbewerb zu vergeben (§ 76 Abs. 1 VgV): Das Honorar als wesentliches oder gar alleiniges Zuschlagskriterium ist im Vergabeverfahren weiterhin ausgeschlossen. Das gilt auch bei Vergaben im sog. Unterschwellenbereich. Der Ausschluss eines Bieters wegen Unterschreitens des HOAI-Mindestsatzes ist jedoch ab sofort ausgeschlossen. Der öffentliche Auftraggeber darf das Honorar weiterhin vorgeben (Festpreisvergabe, § 58 Abs. 2 VgV). Das vorgegebene Honorar darf außerhalb des HOAI-Honorarrahmens liegen, solange es auskömmlich ist.
Fazit
Mit dem EuGH-Urteil wird der Preisdruck auf Architekten und Ingenieure verstärkt. Die HOAI bleibt aber als Leistungskatalog und Honorarberechnungsregel erhalten. Bestehende und künftige Verträge können – bei entsprechender Vereinbarung – weiterhin auf Basis der HOAI-Honorarparameter abgerechnet werden. Das Instrument der Honorarvereinbarung wird gestärkt. Die Bedeutung des Nachtragsmanagements nimmt für Architekten und Ingenieure weiter zu.