BGH, Urteil vom 19.7.2023 - IV ZR 268/21
Die „Prozessindustrie“ im Bereich des Widerrufs von Lebens- bzw. Rentenversicherungen floriert weiterhin, auch wenn die dadurch verursachte Belastung der Gerichte nicht an diejenige durch die „Dieselfälle“ und die Prämienrückforderungsklagen im Bereich der privaten Krankenversicherung heranreicht. Die Instanzgerichte „wehren“ sich gegen die Prozessflut unter anderem durch eine relativ großzügige Annahme der Verwirkung von Widerrufs-, Rücktritts- bzw. Widerspruchsrechten.
Der BGH nimmt eine Verwirkung nur sehr zurückhaltend bei „gravierenden Umständen“ des Einzelfalls an. Er bejaht eine Verwirkung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a VVG a. F. insbesondere dann, wenn der Versicherungsvertrag kurzfristig nach Vertragsschluss oder mehrfach zur Kreditsicherung abgetreten wurde. Selbst diese moderate Rechtsprechung wurde im Hinblick auf Entscheidungen des EuGH zur Verwirkung von Widerrufsrechten bei Verbraucherdarlehensverträgen von Versicherungsnehmerseite heftig kritisiert.
Dieser Kritik ist der BGH nun mit Urteil vom 19.7.2023 begegnet und hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt. Er hat herausgearbeitet, warum seine Rechtsprechung nicht gegen Europarecht verstößt und eine Vorlage von Rechtsfragen an den EuGH nicht geboten ist. Er weist dabei insbesondere darauf hin, dass sich die Rechtslage im Rahmen der vollharmonisierten Verbraucherkreditrichtlinie nicht auf die Lebensversicherungsrichtlinien übertragen lässt, die keine Vollharmonisierung vorschreiben.
Bewertung: Zusammen mit der Rechtsprechung des BGH zur Einschränkung des Widerspruchsrechts bei nur geringfügigen Belehrungsmängeln bleibt der Einwand der Verwirkung ein scharfes Schwert zu Abwehr missbräuchlicher Widersprüche. Der BGH hat zutreffend auf die europarechtlichen Unterschiede zwischen dem Verbraucherdarlehens- und dem Lebensversicherungsrecht hingewiesen.
Praxishinweis: Auch wenn die Entscheidungen des BGH zu geringfügigen Belehrungsmängeln und zur Verwirkung ausschließlich zu § 5a VVG a. F. ergangen sind, ist in der Instanzrechtsprechung die Tendenz zu beobachten, sie auch auf andere Widerrufs- bzw. Rücktrittsrechte im Bereich der Lebensversicherung zu übertragen. Es ist daher in den entsprechenden Rechtstreiten immer sinnvoll, etwa bestehende Gründe für eine Geringfügigkeit von Belehrungsmängeln bzw. für Verwirkung herauszuarbeiten.